„ ‘Opus Dei’:
Unterschiedliche Sichtweisen“[i]
Donnerstag,18.
Januar 2007.19 Uhr c.t.
Dachgeschoss des Juridicum,
1010 Wien, Schottenbastei 10 – 16
„Was oft des
einen Leben ist, ist des anderen Tod“ (Meister Eckhart)
„Meine Damen und Herren, lassen Sie mich vorab
durch eine Widmung meine Beteuerung unterstreichen, in der folgenden
Viertelstunde niemanden verletzen, nichts zerstören oder noch schlimmer machen
zu wollen.: Ich möchte meine Worte zwei Menschengruppen widmen, aus denen mir
jeweils mehrere Personen persönlich bekannt sind: zum einen all denen, die im
Opus Dei offensichtlich eine spirituelle und emotionale Heimat gefunden und
ein reines Herz bewahrt haben. Sie glauben einer Berufung folgen zu müssen, auf
diesem Weg Gott zu berühren und sie tun aus diesem Glauben heraus oft und sehr
viel Gutes. Ungefragt, unvergolten, unentdeckt, unauffällig. Sie haben zu
lieben gelernt. Es gibt sie, ich kenne einige. Zum anderen widme ich meine
Ausführungen all denen, die innerhalb und außerhalb des Opus Dei am Opus Dei
leiden und gelitten haben. Leider gibt es auch sie, die seit Jahrzehnten immer
wiederkehrenden Medienübertreibungen weiten bloß unverfroren die tragischen
Zuspitzungen des Lebens aus. Es gibt die
gebrochenen Herzen um einer behaupteten „Liebe Gottes“ willen brüskierter
Eltern, es gibt die „für Gott“ verlassenen Geliebten und die trotz Gott sich
ungeliebt fühlenden Einsamen, die wie es scheint unwiederbringlich zur
sexuellen Verkorkstheit Verdammten, die geistig Beschnittenen, die emotional
Verarmten, die in die Schrulle Getriebenen und die aus der Sehnsucht in die
Verbitterung Fallengelassenen. Allen, die diesen Gruppen mehr oder weniger
angehören, möchte ich meinen Respekt und meine Zuneigung aussprechen.
Das Recht
befragen
Genug des
Bekenntnisses: Von nun an werde ich sie möglicherweise durch
Sensationsverweigerung und Intimitätswahrung enttäuschen, wahrscheinlich
mit einem Hürdenlauf über Geschichten, Geschichte und Theorie ein wenig
anstrengen, sicherlich nicht durch Endgültigkeiten zufrieden stellen –
und dennoch hoffentlich nicht langweilen. Denn ich meine, dass das Thema
des letzten Teils dieses Seminars „Die Rechtstellung des O.D“ einiges bieten
kann. Es führt uns indirekt zu dem, was das O.D. und seine Kritiker, in
extremis personifiziert im Gründer Escrivá auf der einen und in Dan Brown auf
der anderen Seite an Gewaltigem vorgeben. Escrivá an Anspruch und Hoffnung: die
Wiederentdeckung der universalen Berufung aller Christen zur Heiligkeit, die
Möglichkeit der Fülle für jeden Menschen, wie, wann, wo, mit welchen Talenten
und welcher Geschichte er ausgestattet sein mag, wenn er diese Umstände und
unter ihnen besonders seine Arbeit ernst nimmt, auf Gott bezieht und in die
Dynamik des Erlösungswirkens Christi in und mit dessen Kirche einbeziehen
lässt; das Engagement, die Hingabe an Christus, der uns überall begegnet, lohnt
und kann zu einer Verchristlichung der Weltstrukturen führen, so Escrivá, denn
wie derselbe Christus seinen Evangelisten Johannes sagen lässt: „Wenn ich von
der Erde erhöht bin, werde ich alles an mich ziehen.“ Dan Brown schießt
Escrivá wie mit einer Schrotflinte nach und reißt das Thema mit scharfer
akustischer und optischer Opulenz auf: Geißelstriemen, die auf nacktes
Rückenfleisch herabschnellen, den verführerisch prachtvollen jugendlichen Leib
des Silas mit mechanischer Präzision im Taktschlag archaischer
Gottesbeschwörungsformeln bis aufs Blut zum Boden für das Erblühen der reinen
Lehre umdüngen und dem in seiner Entscheidung immer wieder rebellierenden
kritischen jugendlichen Geist endlich den Weg vom bloß unbedingten Gehorsam zum
vollkommenen, zum Kadavergehorsam im eigentlichen Sinne des Wortes frei machen
sollen, auf dass Leib und Geist in ein einziges heilig-indifferentes Instrument
für die Errichtung des Gottesreiches in der Nachfolge Jesu des Christus
umgestaltet würden. Silas wird sich irren, Blut und Boden wird er vergeblich
bemüht haben, die Errichtung des Gottesreiches wird sich als verbrämte
Machtgeilheit enthüllen. Escrivá oder Dan Brown. Wer hat Recht? Und: Wird
Dan Brown dem Opus Dei gerecht? Wird Escrivá seinen Ideen – seinem Auftrag -,
wird das Opus Dei seinem eigenen Anspruch gerecht?
Ich wiederhole:
Ich bin überzeugt, dass das Thema „Rechtsstellung des O.D:“ indirekt auf diese Fragen
antworten hilft, indem es die erwähnten Vorgaben entemotionalisiert, sie
gewissermaßen ausnüchtert. Indirekt
deshalb, weil ein thematisches Bindeglied nottut. Dieses lautet: „Das
Recht im Opus Dei“ oder auch „Auffassung und Stellenwert des Rechtlichen
im Opus Dei“, wobei Recht im weitesten Sinne als „normatives Element“ verstanden wird. Die Stellung, die dem Recht –
dem Normativen - innerhalb einer Institution gegeben wird, wird sichtbar
im Recht, das sich diese Institution
gibt und beide spiegeln sich wieder in der Rechtsstellung, die dieser
Institution gegeben wird. Der Rechtsstatus des Opus Dei, der Status des
Rechts im Opus Dei und die Statuten des Opus Dei sind untrennbar miteinander
verflochten. In ihrer Zusammenschau ergeben sie ein über das Phänomen „Recht“
vermitteltes Bild vom Selbstverständnis der Institution. Wenn ich mich über
die Personalprälatur Opus Dei informieren möchte, ist es weder erläßlich noch
ausreichend, die entsprechenden Canones des Codex Iuris Canonici zu studieren.
Die Fragen sowohl nach dem inhaltlichen Rechthaben als auch nach dem formalen
Rechtbesitzen sind sämtliche miteinander über die Frage nach dem Inhalt des
formalen Rechts des Opus Dei und dessen Bedeutung für die Institution
verbunden. Nicht nur, ob Dan Brown Recht hat, selbst die Frage meiner
Berechtigung hier und heute zum Thema zu sprechen, lässt sich zum Teil auf
diese Weise beantworten.
Auf das
Recht hören
Escrivá war ein
juristischer Kopf. Viele Mitglieder des Werkes sind Juristen. Das Recht ist
dem Opus Dei wichtig. Niemand wird das bestreiten. Oder – im Lichte der
Weite des Rechtsverständnisses - sagen wir besser: verbindliche Geregeltheit
ist dem Opus Dei wichtig. Das wird deutlich in der Quantität
regulierender Dokumente, deren Regulierungsbereichen und deren Regulierungsformen.
Was wird denn
da wie geregelt? – Nichts weniger als das religiöse Leben. Was aber
regelt das religiöse Leben – v.a. bei Laien, deren Ziel die Wahrnehmung
des allgemeinen Rufes zur Heiligung der Welt und in der Welt sein soll –
anderes als Leben. Nach welchem Kriterium wird geregelt: nach dem
„Geist des Werkes“; nach der Botschaft, die Escrivá die Institution Opus
Dei gründen ließ. Am Anfang stand die
Einsicht, dass Heiligkeit keine Sache von Experten und Weltflüchtigen sei,
sondern alle ehrbaren menschlichen Wirklichkeiten Stoff und Weg der Heiligung
sein können. Eine sehr schöne, fundamentale, offene und öffnende Botschaft an
einen weiten Adressatenkreis. Wo jedoch die Ziele hoch und universal sind,
müssen die Mittel entweder relativ und individuell oder aber unentbehrlich und umfassend sein. Die Universalität
des religiösen Anspruchs und die Regelbarkeit seiner Erfüllung verhalten sich
verkehrt proportional zueinander. Je mehr Geist, desto weniger Schema und
desto weniger Schematismus. Die Mittel werden zwar nicht gleich-gültig, aber
tendenziell gleichgültig, wenn sie nur gültig sind. Die Crux ist allerdings,
dass zwar nicht die Regelbarkeit der Erfüllung, sehr wohl aber das
Erfüllungsbedürfnis mit der Universalität wächst, d.h. diese
verhalten sich wiederum proportional zueinander. Wird dieses
Spannungsverhältnis nicht ertragen und die Regelbarkeit um der Erfüllung des
Bedürfnisses willen behauptet und versucht, so beginnen Regelungsintensität,
Regelungsdichte und Verbindlichkeit sich zu wenden, anzupassen und sich
proportional zum Anspruch zu verhalten. Der Stellenwert der Verrechtlichung
schlägt um. Man muss plötzlich nicht nur einen Haltegriff finden, sondern alles
möglichst gut in den Griff bekommen und im Griff behalten. Und das passiert
sehr vielen im Opus Dei. Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Der ganze
zu heiligende Alltag wird mit religiösen Übungen durchsetzt – Mittel sollen
sie sein, „Normen“ heißen sie – vom Aufstehen (sofortigen Aufspringen
und Küssen des Bodens und damit verbundener Aufopferung des gesamten Tagewerks)
über täglichen Messbesuch, Rosenkranz, zwei Mal halbstündiges betrachtendes
Gebet, Lesungen etc.. bis hin zur abendlichen Gewissenserforschung samt
Evangelienkommentar, gemeinsamem Gebet und Drei Ave-Marias vor dem Zu-Bett-Gehen.
Diese „täglichen Normen“ werden ergänzt durch „Normen von immer“,
zu denen einfach Haltungen, Intentionalitäten oder Befindlichkeiten gehören: so
etwa Ordnung, Arbeit, Abtötung, Freude. Im Opus Dei sind diese Norm. Norm heißt
aber definitionsgemäß Richtschnur und zwar generell. Auf die Norm kann ich nur
durch Verstoß verzichten. Sie gilt ebenso definitionsgemäß für alle
gleichermaßen, in Ausnahmefällen kann ich dispensiert werden. Der psychische
Druck ist hier wohl vorprogrammiert – nicht wegen der jeweiligen religiösen
Praxis, nicht einmal wegen des quantitativen Pensums, das alle Praktiken
zusammen ergeben, sehr wohl aber deren Unveränderlichkeit und vermeintlich ausnahmslosen
Unentbehrlichkeit wegen, d.h. der Normativität wegen, die im religiösen
Bereich natürlich eine besonders hohe ist. . Und so geht es nicht nur mit
den Normen, die man macht, und die den sogenannten „Lebensplan“ bilden,
den man erfüllt. Es treten weitere
Vorschriftenbündel hinzu:
die zum Geist des Opus Dei gehörigen
sogenannten Gewohnheiten, ferner sehr konkrete Vorschriften für das
Sozialverhalten innerhalb und außerhalb der auf sehr konkreten Vorschriften
gebauten und eingerichteten Häuser des Werkes, darunter detaillierte
Anleitungen für den Kontakt mit Personen anderen Geschlechts. All diesen
Normtypen begegnen wir einzeln wie im Doppelpack (ein Beispiel: Bauvorschriften
im Verbindungsbereich zwischen Männerabteilung und Frauenverwaltung – das
Erfordernis der doppelt verschließbaren Türe). Und all das macht zwar den
„Geist des Werkes“ nicht aus, ist aber Ausfluss, Konkretion dieses Geistes, ist
„Opus Dei“. Paradoxerweise
wird durch die Fülle an Normierung im für den „Geist“ des Werkes so
wesentlichen Aspekt der Laikalität und der alltäglichen Normalität genau das Gegenteil
des angestrebten Ziels erreicht: die Gefahren der Verzettelung, eines
geistig-intellektuellen, ja geistlich-spirituellen Horizontverlusts zugunsten
eines religiösen Krämergeistes, der Anreiz zur Bildung einer „corporate
identity“ von „Experten des Allgemeinen“ nehmen zu, ein „Mir san mir“ der
„besonders Normalen“ oder gar der „besonderen besonders Normalen“ lockt. Nach und nach beginnt das Opus sich selbst im Weg zu stehen, nach und nach verliert
Deus im Opus Dei – im übrigen: „Opus Dei“ was für ein Selbstwertgefühl oder was
für ein Mangel desselben steht wohl hinter einer solchen Namensgebung ?! –
langsam erlangt der Deus Operis – der gemachte oder wie Meister
Eckhart sagt: der „gedachte“ Gott –die Oberhand über den Deus absconditus der
Schrift und den Deus semper maior der Tradition. Die Sprache folgt
schließlich dem Sein, der Quantität der Normen und ihrer korsettartigen
Normativität, hat keinen Freiraum mehr, verfestigt sich in floskelhaften
Bezugnahmen oder Übersetzungen des Prä-Normierten. Ich habe niemals und
nirgendwo so oft wie in meinen 10 Jahren im Opus Dei den Satz „Es ist nicht
(oder: schon) angebracht“ zu hören bekommen. Ich hoffe, es ist nicht nur
meine Abscheu vor diesem Wort, sondern wahr, wenn ich behaupte, das in
spirituellen Dingen am wenigsten angebrachte Wort lautet „angebracht“.
Die
Geschichte befragen
Musste das
alles so kommen? Sind
das alles nur Wehwehchen oder Entgleisungen oder Engführungen? Aus meiner Sicht
musste es nicht so kommen, doch war mit der Entscheidung Escrivás für eine
Gründung der Zug in diese Richtung bestiegen und mit der Entscheidung zugunsten
der Verrechtlichung des Geistes dieser Zug in Bewegung gesetzt worden. Die
Institutionalisierung, d.h. öffentlich-rechtliche Zementierung und Absicherung
in Rom hat aus dem Verrechtlichungszug bloß noch eine Hochgeschwindigkeitsbahn
gemacht. Am Anfang – in den Dreißigern und Vierzigern des 20.
Jahrhunderts – standen in Madrid und Barcelona der Geist und das Charisma.
Das bestätigen einmütig die heute noch lebenden Mitglieder wie auch und gerade
jene die damals dabei waren und heute nicht mehr dabei sind. Doch, um meine
bescheidene Meinung zu äußern: für eine Bewegung mit einem derart
universalen – ich möchte sagen mit dem fast schlechthinnigen katholischen spirituellen
Anspruch, der allgemeinen Berufung zur
Heiligkeit – scheint fast jede Gründung zu viel, weil zu wenig des Guten zu
sein. Erfolgt sie dennoch, wird sie jedenfalls stets die erhöhte Gefahr
zu gewärtigen haben, dass in der Folge die Mittel als einzig übrig bleibendes
Spezifikum mit dem Zweck, beide mit dem „Katholon“ und das proselytische Wirken
der Institution mit dem Sendungsauftrag der Kirche gleichgesetzt werden,
Christus aber, Alpha und Omega, als eine Art erster Missionar der eigenen
Erlöserrolle gesehen und der Glaube zur Ideologie umgenormt wird. Escrivá
war gewiss von seiner Berufung zum Gründer überzeugt. Er ist gewiss seinen
Weg gegangen. Heißt das aber, dass er sich in weiterer Folge nie geirrt haben
sollte, dass er nicht nur den richtigen Weg gegangen sein, sondern ihn auch
gebahnt haben muss? In allem und jedem? Während Franz von Assisi,
nachdem er die ersten gleichgesinnten Freunde um sich geschart hatte, der
Gemeinschaft die Bezeichnung „Minderbrüder“ (man vergleiche: „Opus Dei!“)
verlieh, die Ordensleitung vorübergehend zurücklegte und ihn schließlich die
Zustimmung zur Ausarbeitung von Ordensregeln derart gequält haben muss, dass
eine bessere Vorbereitung auf die Stigmata von „La Verna“ kaum denkbar sein
dürfte, entschloss sich Escrivá für den Gang nach Rom, für 30 Jahre
hingebungsvoller Schreibtischarbeit im Sinne der Präzisierung, Vorantreibung,
Absicherung und vatikanischen Verankerung des Gründungswerkes. Franz
verkrampfte sich, wenn man von ihm weniger Lockerheit der Norm gegenüber
verlangte. Escrivá wurde locker, wenn er nichts mehr an Selbstbindung an die
Norm von sich abverlangen konnte.
Die Seele
befragen
Warum aber
diese Entwicklung und
nicht die andere – die franziskanische oder jene des Meister Eckhart? Warum
nicht einfach predigen und leben ohne zu gründen? Und wenn gründen, warum nicht
einfach eine offene Gemeinschaft, verbunden im Geist und in einem Minimum an
normativen Regelungen und einem Maximum an Vorschlägen, Hinführungen, Optionen?
Ich kann nur vermuten aus Angst.
Angst mag für die Bündelung und Aktivierung der Lebensantriebe und moralischen,
religiösen, künstlerischen Potenzen des einzelnen eine immense, letztlich ins
positive wendbare Bedeutung besitzen. Doch die Bekämpfung der Angst und ihr
Verschwinden sind ebenso wenig übertragbar wie die Angst selbst. Wir sind alle
nicht ohne Angst, deshalb ist Angst evozierbar; doch gleichzeitig ist sie
höchst individuell, daher kann sie von außen nicht geheilt werden. Vielleicht
ist Angst verirrte Sehnsucht. Alle großen Worte des Menschen – „Gott“,
„Glauben“, „Liebe“, „Seele“, „Treue“, „Reinheit“, Sünde“, „Vergebung“ usw. –
werden von der Sehnsucht wie von der Angst reklamiert. Nur, die Sehnsucht
umwirbt sie, bestürmt sie, umdichtet sie, stellt sie in Frage, die Angst
aber gebraucht sie, um sich vor sich selbst zu verstecken und so ein
Dauerundergrounddasein führen zu können. Im Opus Dei werden diese Worte mit
einer frappierenden Selbstverständlichkeit gebraucht. Die geistige
Atmosphäre der letzten Jahrhunderte, die Verunsicherung im Gottes- Menschen-
und Kirchenbild, die Erschütterungen unserer Bewusstheiten, die Risse in
unseren Lebenstauen, die kosmische
Fragwürdigkeit des Lebens, die globale Fragmentierung des Daseins, die ganze
negative Theologie,– all diese typischen Befindlichkeiten, Ratlosigkeiten,
Herausforderungen des Zeitgenossen kennt ein Mitglied des Opus Dei jedoch kaum.
Zumindest kaum auf diese Weise. Über und hinter diesen Ängsten hängt die große
Lebensangst des „unbehausten Menschen“ (Holthusen). Das Opus Dei scheint sich vor
dieser Lebensangst zu ängstigen. Es kennt sie nicht und nicht das Tausenderlei
ihrer Erscheinungsformen. Doch gerade in der Unkenntnis oder gar Leugnung ihrer
selbst bemächtigt sich die Lebensangst ihrer Opfer. Ignoranz und Leugnung ihrer
Existenz sind die trojanischen Pferde ihrer Permanenz. Ebenso wenig wie auf die Erfahrung der
Lebensangst trifft man im Opus Dei auf die Erfahrung des Lebensrausches, wie er
in der Verflochtenheit von Leidenschaft und Liebe, der Gewalt und gleichzeitig Unbeschwertheit
der Sexualität, im Erwachen der Lebens- und Schöpfungskräfte den jungen, verjüngten,
befreiten oder künstlerischen Menschen überkommt. Lebensangst ist letztlich
Angst vor der Wahrheit und vor dem Abgrund der Wirklichkeit, Lebensrausch
Taumel hin zur Oase des erfüllten Sehnens und in die Fata Morgana einer
ersehnten Fülle. Doch um von der Wahrheit und vom Abgrund verschont werden zu können,
muss man vorgeben, Abgrund und Wahrheit zu besitzen, merkt aber nicht, wie sehr
man dadurch von ihnen besessen wird. Das Leben wird zur Blockade für das Leben.
Man weiß, was wahr, gut, wer der Mensch und wer Gott, was der Tod und was das
Leben ist. Im Opus Dei entzieht man sich nicht dem Leben, sondern meint es an
sich ziehen zu können. „Wir sind völlig frei. Wir haben die Tradition, die
hl. Schrift, das Lehramt, den Geist des Werkes und den hl. Thomas – darüber
hinaus sind wir völlig frei“, so Anfang der Neunzigerjahre die geradezu
jubelnd vorgetragene Einsicht eines Priesters des Opus Dei während einer
Morgenmeditation. Darüber hinaus? Wie frei wir über den hl. Thomas hinaus
waren, wurde mir bewusst, als ich von den Vorgesetzten im Werk aufgefordert
wurde, mit einem anderen, heute längst ausgetretenen Mitglied einen
Generaltitel für eine Heftchenreihe zu kreieren, die von einer dem Opus Dei
überantworteten Kirche herausgegeben, betreut und vertrieben werden sollte. In
periodischen Abständen sollten aktuelle spirituelle, individual- und
sozialethische Fragen aus christlicher Sicht behandelt und
Orientierungsentwürfe versucht werden. Wir machten uns frohgemut auf Titelsuche
– und siehe da, so etwas wie ein geistiges Atemholen ereignete sich,
inspirierte Ansätze mit höchst positiven Konnotationen wie etwa „Lichtmarken“,
„Lichtungen“, „Richtungen“, „Der Wahrheit auf der Spur“, „Worte der Freiheit“
etc. überschwemmten uns geradezu und schließlich schlugen wir hoffnungsvoll
einiges aus unserer Auswahl vor. Die Leiter muss es gereut haben, uns beiden
diese Aufgabe übertragen zu haben. Die einzige Reaktion, die ich erhielt, fand
ich plötzlich in Form der fertigen ersten Ausgabe vor, auf dem Schriftenstand
jener Kirche, in jeder Hinsicht aufgelegt. Sie lautete: Antworten.
Auf die
Geschichte hören
Antworten: Das Opus Dei hat sich fürs Antworten
entschieden. Antworten sollte, so der Tenor im Opus Dei, auch das
Kirchenrecht. Auf die spezifischen mit der internen Rechtsordnung des Opus
Dei gegebenen Herausforderungen und erforderlichen Neuerungen. Die Bedeutung,
die dem Rechtlichen beigemessen wird, gilt nach innen wie nach außen. Das Opus Dei ist insofern
konsequent. Es begnügt sich nicht mit falschen oder sagen wir morsch gewordenen
Plätzen, auch nicht, wenn es die einzigen sein sollten. Ob der Verfassung des
Opus Dei mit der Schaffung und Einrichtung der Personalprälatur Genüge getan wurde,
sei dahin gestellt. Aus rechtlicher Hinsicht wurde wohl approximativ den
Tatsachen entsprochen, d.h. den sich aus den internen Bestimmungen ableitenden
Praktiken eine adäquatere Basis als vor 1982 verliehen. Die Frage, inwieweit
Laien jurisdiktionsrelevante Leitungstätigkeit ausüben können, verliert für
mich an vitaler Bedeutung, wenn man bedenkt, dass auch nach internem Recht –
d.h. den Statuten des Werkes – wohl fast ausschließlich ehelose, in gemeinsamen
Zentren lebende Mitglieder zu Leitungsaufgaben berufen werden können. Deren
psychisches Profil sowie deren Verfügbarkeitsverpflichtung unterscheidet sich
nicht wirklich von jenem von Ordensleuten oder Weltpriestern. Jedenfalls
waren wir alle glücklich, als wir informiert wurden, dass das „besondere Anliegen
des Vaters“, für das wir jahrelang intensiv gebetet hatten, ohne zu wissen,
worin es denn konkret bestünde, Erfüllung gefunden habe. Wir spielten
gerade Fußball in Graz, während eines
jährlichen Kurses, den die Numerariermitglieder zu absolvieren hatten, als ein
Priester uns auf dem Fußballplatz aufsuchte und uns freudig erregt diese
Mitteilung machte. Wir brachen ab und jubelten ins Zentrum zurück. Nach einer
wohltuend kalten Dusche erlitten wir umgehend eine unangenehme noch kältere
Dusche: „Nein, das Ganze sei eine „Ente“ gewesen, es habe sich sicherlich etwas
bewegt, doch habe die Nuntiatur in Wien oder kathpress, so genau müssten wir
das auch nicht wissen, voreilig und zu viel verlautbart, vergesst’ s wieder“ -
und mit einem Mal waren wir zwar doppelt gut geduscht, doch ansonsten noch
weniger klug als zuvor. Derselbe, im übrigen sehr sympathische und herzliche
Priester, hatte zwischen Fehlinformation und deren Rücknahme die Zeit nützen
und nicht umhin kommen wollen, seiner Überzeugung von den zu erwartenden segensreichen
Wirkungen dieser unzweifelhaft segensreichen Lösung des Rechtsstatus des
Opus Dei auf unsere familiären Beziehungen begeistert Ausdruck zu
verleihen: „Ich verstehe nicht, was die Eltern jetzt noch gegen das Werk haben
können. Jetzt ist die kirchliche Billigung nicht nur bestätigt, der hl. Vater
hat uns jetzt sogar formell den uns gebührenden Rechtsstatus verliehen und
dafür keine Anstrengung gescheut.“ Wie gesagt, der sehr sympathische und
herzliche Priester musste noch einige Monate auf den päpstlichen Erlass, die
Apostolische Konstitution „Ut sit“ warten, um die Probe aufs Exempel machen und
sichergehen zu können, dass der Schmerz und die Sprachlosigkeit einer Mutter,
eines Vaters seine Heilung zweifelsohne in einem formellen Verweis auf das
formale Recht finden würde. ‚Sanatio in bulla’ – Ut sit!
Auf die
Seele hören
Dem formalen
Recht trägt aber auch Dan Brown Rechnung, wenn er beispielsweise die Geißel
auf den jugendlichen Rücken herabschnellen lässt und dies als Praxis im Opus
Dei zu verstehen gibt. Freilich übertreibt er maßlos in der Darstellungsweise,
doch hat er Recht in dem Sinn, dass die Bußgürteltragebestimmung und die
wöchentliche Geißelverwendung zu den Gewohnheiten zählen, die zu pflegen der
„Geist des Werkes“ von der erwähnten, ehelos und in Zentren in Gemeinschaft
lebenden Mitgliedergruppe der Numerarier erwartet. Diese Praktiken sind für die
Angehörigen dieser Gruppe nicht fakultativ: sie sind nicht
höchstpersönlich wählbare oder im Rahmen der geistlichen Beratung situativ und
mit äußerster Vorsicht vorübergehend für geeignet erkannte asketische
Sondermaßnahmen, sondern früher oder später zu erreichender Standard. Allerdings
wird Dan Brown dem Phänomen in zweifacher Weise nicht gerecht, denn erstens
lässt er die ganze Welt der Subjektivität – der Motive, Ziele, psychologischen
Begleitumstände, etc. – beiseite oder unterstellt Sadomasochismus bzw.
Ratlosigkeit, da irgendein Beweggrund gefunden werden muss; und zweitens findet
er es nicht der Mühe wert, der Bedeutung nachzuforschen, die diesen Praktiken
im internen Regelungsgefüge des Opus Dei zukommt und die sie aus Sicht der
Betroffenen, d.h. der Flagellanten besitzen. Denen – und hier ist das Opus Dei
im Recht – ist das eher eine sekundäre Angelegenheit. Sie fühlen sich eher kaum
als Flagellanten. Aber eben nur eher. Und kaum. Leider.
Was mag mich
außer den beruhigenden atmosphärischen Umständen des Juridicum bewogen
haben, heute hier aktiv teilzunehmen? Es ist wohl das, was mich mein Leben lang
bewogen hat: die Sehnsucht, den roten Faden zu finden zwischen Gott, den
Menschen, den Gläubigen und Nichtgläubigen, den Staaten, den Freunden und
Feinden, den Frauen und Männern, Jungen und Alten, Kranken und Gesunden,
Starken und Schwachen, Gerechten und Entrechteten. Diese Sehnsucht nach dem
roten Faden, die mich am Anfang zum fraglosen Dazugehören bewog, bewegt mich
heute, so hoffe ich aufrichtig, zum hörenden Fragen. Hören und fragen,
fragen und hören. Wenn es geistig-geistliche Grundrechte gäbe, so würde ich
an erster Stelle diese beiden setzen. Hören und fragen. Hören und fragen ist
unsere gemeinsame Chance. Wenn wir das Opus Dei verstehen wollen, sollten
wir es anhören, ihm zuhören. Seinen Vertretern wie seinen Ex-Vertretern. Und
wir sollten es bei seinem „Geist“ nehmen, der wiederum lesbar und also hörbar
wird in seinem Recht. Darauf hat das Opus Dei ein Recht. Und dann sollten wir
in uns hineinhören, um schließlich zu fragen beginnen zu können. Das Recht
abschließend zu urteilen hat niemand. Weder das Opus Dei über die Kritiker noch
die Kritiker über das Opus Dei. In der Gemeinschaft der Kirche – und was ist
die Kirche in ihrem ursprünglichen Verständnis anderes als die auf Gott
bezogene Welt - haben allerdings alle das Recht einander zu befragen. Da der
„Geist“ des Opus Dei zudem potentiell
alle Menschen ansprechen und einige verpflichten will – so sagen es die
Dokumente, die Vorträge und Beiträge m.a.W. so sagt es das „Recht“ des Opus
Dei – haben wir ein doppeltes oder
dreifaches Recht der Frage. Könnte Heidegger Recht gehabt haben, als er
schrieb, „das Fragen“ sei „die
Frömmigkeit des Denkens“? Im Opus Dei ist vieles frag-würdig. Ebenso
in der Welt, in mir und in jedem von uns. Als Menschen müssen wir denken und
also fragen dürfen. Sollten wir nicht den Versuch wagen – jeder für sich und in
Gemeinschaft – Heidegger ergänzend zu denken,
und uns selbst und einander nicht öfter fragen, ob nicht das Hören
die Frömmigkeit des Wollens sei?
Sind fragend hören und hörend fragen nicht aller Erkenntnis und Liebe Anfang.
Und haben wir mit Erkenntnis und Liebe nicht vielleicht doch irgendeine
Chance? Innerhalb des Opus Dei? In der Kirche? Auf der Welt? In der
Schöpfung? – Bei Gott? Bei Gott - JA!
Ich danke Ihnen
und hoffe auf eine faire, ertragreiche Diskussion.